Michael Hardt/Antonio Negri, Empire, 2003, Frankfurt, S.169ff
Die Armen
In jeder historischen Periode wird ein gesellschaftliches Subjekt, das stets vorhanden und überall das gleiche ist , oftmals negativ, aber gleichwohl beharrlich über eine gemeinsame Lebensform definiert. Diese Lebensform ist nicht diejenige des Mächtigen oder Reichen: Sie sind lediglich partielle und lokal begrenzte Gestalten, quantitate signatae. Der einzige nicht lokalisierbare "gemeine Name" für reinere Differenz zu allen Zeiten ist der des Armen. Der Arme ist mittellos, ausgeschlossen, er wird unterdrückt und ausgebeutet - und doch lebt er! Er ist der gemeinsame Nenner des Lebens, die Grundlage der Menge. Es ist seltsam, aber bezeichnend, dass postmoderne Autoren diese Gestalt selten in ihre Theorien aufnehmen. Seltsam deshalb, weil der Arme in gewisser Weise eine ewige postmoderne Gestalt ist: die Gestalt eines transversalen, omnipräsenten, differenten, mobilen Subjekts: Zeugnis des unwiderruflich aleatorischen Charaktes des Daseins.
Dieser „gemeine Name“, der Arme, ist auch die Begründung jeder Möglichkeit von Humanität. Wie Niccolò Machiavelli gezeigt hat, wird dem Armen im Zuge der „Rückkehr zu den Anfängen“, welche die revolutionäre Phase der Religionen und Ideologien der Moderne kennzeichnet, fast immer eine prophetische Fähigkeit zugeschrieben:
Der Arme ist nicht nur in der Welt, sondern er ist als solcher die bloße Möglichkeit der Welt. Nur der Arme lebt radikal das tatsächliche und gegenwärtige Sein, in Not und Leid, und deshalb verfügt einzig der Arme über die Fähigkeit, das Sein zu erneuern. Die Göttlichkeit der Menge der Armen verweist auf keinerlei Transzendenz, im Gegenteil: Hier und nur hier auf dieser Welt, in der Existenz des Armen wird das Feld der Immanenz deutlich, bestätigt, gefestigt und geöffnet. Der Arme ist Gott auf Erden.
Heute gibt es nicht einmal mehr die Illusion eines transzendenten Gottes. Der Arme hat diese Vorstellung ausgelöscht und deren Macht an sich gerissen. Vor langer Zeit wurde die Moderne mit Rabelais´ Gelächter eröffnet, mit den realistischen Supremat des Bauches der Armen, mit einer Poetik, die alles darstellt, was es bei dieser notleidenden Menschheit „unter der Gürtellinie“ gibt. Später entstand im Zuge der ursprünglichen Akkumulationsprozesse das Proletariat als Kollektivsubjekt, das sich in seiner Materialität und Immanenz selbst artikulieren konnte, eine Menge von Armen, die nicht nur prophezeite, sondern auch produzierte und damit Möglichkeiten eröffnete, die nicht mehr nur virtuell, sondern ganz konkret waren. Heute schließlich, unter den biopolitischen Produktionsregimen und im Zuge der Postmodernisierungsprozesse, ist der Arme eine unterjochte, ausgebeutete Gestalt, aber gleichwohl eine Gestalt der Produktion. Und genau darin liegt das Neue. Heute besteht auf der Grundlage von Begriff und „gemeinem Namen“ des Armen überall eine Beziehung zur Produktion. Warum ist die Postmoderne unfähig, diesen Übergang zu verstehen? Sie erzählt uns, ein Regime transversaler linguistischer Produktionsverhältnisse habe ins einheitliche und abstrakte Universum des Werts Einzug gehalten. Doch wer ist dieses Subjekt, das “transversal“ produziert, wer verleiht der Sprache einen schöpferischen Sinn - wer, wenn nicht die Armen, die unterjocht und voller Sehnsucht sind, verarmt und mächtig, ja immer mächtiger werden? Hier, innerhalb dieses Regiments der globalen Produktion, unterscheidet sich der Arme nicht mehr nur durch seine prophetische Fähigkeit, sondern auch durch seine dringend notwendige Präsenz bei der Produktion eines gemeinsamen Wohlstands. Der Arme selbst ist Macht. Es gibt eine Weltarmut, aber vor allem auch ein Weltchance, und einzig der Arme kann sie ergreifen.
„Vogelfrei“ – mit diesem Begriff hat Karl Marx das Proletariat beschrieben, das zu Beginn der Moderne in den ursprünglichen Akkumulationsprozessen auf zweifache Weise befreit wurde: In erster Linie wurde es davon befreit, Eigentum des Herrn zu sein
(d.h von der Leibeigenschaft); und zum zweiten wurde es von den Produktionsmitteln „befreit“, es durfte keinen Boden besitzen und hatte nichts zu verkaufen als die eigene Arbeitskraft. In dieser Hinsicht wurde das Proletariat dazu gezwungen, die reine Möglichkeit von Wohlstand zu werden. Die vorherrschende Strömung der marxistischen Tradition hat die Armen jedoch immer gehasst, und zwar genau deswegen, weil sie „frei wie die Vögel“ waren, immun gegen die Fabrikdisziplin und gegen die für den Aufbau des Sozialismus nötige Disziplin. Als Vittorio de Sica und Cesare Zavattini 1950 die Armen am Ende ihres wundervollen Films Das Wunder von Mailand auf Besenstielen davonfliegen ließen, wurden sie von den Vertretern des sozialistischen Realismus auf das Heftigste des Utopismus bezichtigt.
Der Vogelfreie ist ein Engel oder ein schwer zu fassender Dämon. Und hier, nach so vielen Versuchen, die Armen zu Proletariern und die Proletarier zu einer Befreiungsarmee zu machen (die Vorstellung von einer Armee lastete schwer auf der Befreiung), taucht in der Postmoderne im blendenden Licht eines neuen Tages wiederum die Menge auf, der „gemeine Name“ für die Armen. Sie kommt nunmehr voll und ganz zum Vorschein, denn in der Postmoderne haben die Unterjochten die Ausgebeuteten absorbiert. Mit anderen Worten: Der Arme, jeder einzelne Arme, die Menge armer Menschen haben die Menge der Proletarier aufgefressen und verdaut. Allein durch diese Tatsache sind die Armen produktiv geworden. Und die Armen sind deshalb immer wichtiger geworden: Das Leben der Armen umschließt den Planeten und umhüllt ihn mit ihrem Verlangen nach schöpferischer Tätigkeit und Freiheit. Der Arme ist die Bedingung jeder Produktion.
Man munkelt, dass die postmoderne Sensibilität und die Entstehung des Begriffs der Postmoderne ihre Wurzeln bei jenen sozialistischen Philosophen in Frankreich haben, die in ihrer Jugend die Disziplin der Fabrikarbeiter und den am Horizont schon sichtbar realen Sozialismus priesen, dies aber nach der Krise von1968 betreuten und fortan verkündeten, dass der kommunistische Anspruch auf Wiederaneignung des gesellschaftliche Reichtums hinfällig sei. Heute rekonstruieren, banalisieren und belächeln eben diese Philosophen jede gesellschaftliche Bestrebung, die sich gegen den universellen Triumph des Tauschwerts richtet. Die Medien und die Medienkultur wollen uns weismachen, diese Philosophen hätten die Zeichen des neuen Weltzeitalters erkannt, aber das stimmt nicht. Die Entdeckung der Postmoderne bestand darin, dass sie den Armen wieder in die Mitte des politischen und produktiven Feldes rückte. Wirklich prophetisch aber war das arme, vogelfreie Lachen von Charlie Chaplin, als er - frei von allen utopischen Illusionen und vor allem jeglicher Disziplin in Sachen Befreiung - die „modernen Zeiten“ der Armut interpretierte, die Bezeichnung „Arme“ dabei aber zugleich mit derjenigen für „Leben“ verknüpfte - ein befreites Leben und eine befreit Produktivität.